Biografisches
Norbert Nüssle wurde 1932 in Heidelberg geboren, wuchs aber in Mannheim auf. Ab 1951 studierte er Romanistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg sowie in Paris und Lille. Er zeichnet vermehrt, als er während des Studiums in Paris war, ist aber als Maler und Künstler Autodidakt. Seit 1963 lebte er in Mannheim und lehrte an einem Gymnasium Latein und Französisch. 1974 heiratet er die Schauspielerin Karin Möller, 1978 kommt ihr Sohn Mondrian auf die Welt.
Seit 1983 (-2003) hatte er ein Atelier in der Alten Sternwarte Mannheim, seit 1983 bis zu seinem Tode 2012 lebte er in einer großen Wohnung mit Atelier in B 7 in Mannheim.
Mit seinen Collagen hält Norbert Nüssle vielschichtige urbane Situationen in der Bretagne und in Mannheim fest. Seine Arbeiten sind keine abstrakte Kompositionen, sondern kritische Reflexionen der Wirklichkeit. Er sammelte Alltagsgegenstände auf der Straße und collagierte sie in seine Bilder ein, durch die Verwendung dieser objets trouvés ist Norbert Nüssle einzigartig in der Mannheimer Kunstszene.
Frühwerk
In seinem Frühwerk war der Künstler rein malerisch auf den Spuren der Art Brut unterwegs, der Kunst der Außenseiter und psychisch Kranken (früher Geisteskranken), die ja keinerlei Kontakt zur traditionellen Kunstszene oder Kunstausbildung an Akademien hatten.
Diese Art der Bildenden Kunst trägt häufig kindliche Züge, wirkt oft grob oder roh, aber farbstark und hatte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entwicklung der Malerei ab 1950.
Collagen
Die erste Collage bestand aus einer aufgeklebten Eintrittskarte der Staatsoper Wien und variierte durch diese Geste ein simples Paarbild in einem freundlichen Zimmer. Hier geht der Künstler über das rein Malerische hinaus.
In den späten 1960er Jahren beginnt Norbert Nüssle damit, große Köpfe zu gestalten und sie dann auch zu öffnen bzw. sie als anthropomorphe Kopffüßler aufzufassen. In den einzelnen Kompartimenten dieses Kopfes, die als Augenhöhlen aufzufassen sind, ist der Durchblick in den Himmel oder die Landschaft beheimatet.
In Brusthöhe spielen sich häufig erkennbare, erzählerische Szenen ab, wie etwa ein im Stehen vollzogener Geschlechtsakt, der so schon früh die sexuelle Obsession und Subversivität des Künstlers anzeigt, was die Darstellung in der Bildenden Kunst betrifft. Überall befinden sich nun Collageteile eingebaut, auch in Farbe.
Alter Ego Pim
1969 erscheint zum ersten Mal des Künstlers alter ego Pim. Der große irische Dramatiker Samuel Beckett hatte in seinem zuerst auf Französisch erschienen Buch „Wie es ist“ (1958) die Figur des Pim entwickelt, dessen Identität im Stadium der Auflösung ist. Mit dem Gesicht im Schlamm liegend, Konservendosen um den Hals gebunden, berichtet er, wie es "vor Pim", "mit Pim" und "nach Pim" war.
Vollständig absurd, abstrus, sinnentleert und existenzialistisch aufgeladen scheint dieses Romanfragment, das Norbert Nüssle als begeisterter Leser in die visuelle Bildsprache umsetzte. Der bildende Künstler übersetzt dabei die Äußerungen des Bewusstseins des Namenlosen, die Beckett ohne die übliche Syntax aufschrieb und deren Satzeinheiten er bis zur Sinnentleerung variierte, in seine ungewöhnliche Collagesprache. Gerade die „geöffneten“ Köpfe mit ihren zerfetzten Realitätspartikeln erscheinen als eine adäquate Übertragung in eine andere künstlerische Dimension.
Die Arbeit Pim der große Häuservogt, 1973 nonue_0310 bezieht sich auf den damaligen Vermieter des Künstlers. Die Hosen sind aus realem Stoff.
Die Liebe zu Frankreich
Ein berühmtes Projekt des Künstler begann 1974: „Die Straße nach Paris“: Von vielen Orten, durch die er im Sommer fuhr, legte Norbert Nüssle Bilder der Straßen, der Ortsdurchfahrten an, die mit den Materialien versehen waren, die er vor Ort fand.
Die Fahrten zu den Zielen in Frankreich waren damals ungleich beschwerlicher als heute, weil noch keine Autobahn existierte, aber sie waren auch lebendiger und variationsreicher. Die Arbeiten belegen den Charakter des Unterwegsseins, der Fahrten in die geliebte Bretagne auf inspirierte Weise.
Ein späteres Beispiel dieser Serie zeigt Nüssles Variationsmöglichkeiten: Un été à Valmy, la route de Paris (1979, nonue_0460) präsentiert die Straße nach Paris in Valmy. Erneut ist ein Straßendorf zu sehen, die Häuser werden wieder aus Collageschnipseln gebildet, neu hingegen ist (seit 1977) das angeschnittene Gesicht mit großem Mund im Vordergrund.
Plätze
Zu Beginn der 1980er Jahre tritt ein neues Thema in das Universum des Künstlers: die Mannheimer Plätze. Topografisch exakt gibt Norbert Nüssle etwa den Mannheimer Paradeplatz, den Alten Messplatz oder den Marktplatz wieder. Authentische Zustandsberichte, die die Wirklichkeit der Zeit festhalten, aber eben auch die Stadt porträtieren.
Um diese Zeit begann er zudem, sich für Baustellen, das Innere der Erde zu interessieren und es zu dokumentieren. Zunächst fertigte er Skizzen an, sammelte vor Ort die authentizitätsstiftenden Materialien und fügte in die Skizzen Polaroidfotos ein, die er aktuell aufnahm - er entwarf also seine Welt vor Ort.
Innenräume
Waren die Sujets seiner ersten Arbeiten in den 1960er Jahren zumeist formatfüllende menschliche Figuren im Innenraum, so kommen später die Räume selbst zu Wort und die menschliche Gestalt wird immer kleiner.
Ein sehr schönes blaues Exemplar hing lange in Nüssles Schlafzimmer: Die alte Wohnung (Anfang der 1970er Jahre, nonue_0462). Bezeichnenderweise besteht der collagierte Teppich aus blauen Gauloises-Packungen.
Ein Paar liegt im Bett, die Fenster lassen den Durchblick zu, an der Wand steht ein Ofen. Der Liebreiz dieser Innenraumarbeit verdankt sich ganz der Farbe und den nur angedeuteten Gesichtern. In späteren Jahren mehren sich die Innenräume im Werk von Norbert Nüssle.
Fernsehleichen
Eine weitere Variante des Innenraumbildes der 1990er Jahre wird die sogenannte Fernsehleiche, ein in der Kunstgeschichte einmaliges Sujet, das sicher auch dem zunehmenden Alter und dem Nachlassen der Mobilität des Künstlers geschuldet ist. Als Beispiel ist hier Die zweite Fernsehleiche von 1999 (nonue_0814) zu nennen.
In einem Wohnzimmer liegt eine wilde Leiche am Boden, die sich sichtlich einem Krimi im Fernsehen verdankt. Links an der Wand sieht man ein Männergesicht, jede Menge Stofffetzen, eine Dusche mit kariertem Fliesenboden und erstaunlicherweise den Himmel.
Ohne jedes Vorbild in der Kunstgeschichte schuf der Künstler dieses neue Sujet, das erneut die existenzialistische, multiperspektivische, aber auch ironische Haltung seines gesamten Schaffens aufweist.
Serviettenbilder
Eine weitere völlig eigene Erfindung des Künstlers sind die sogenannten Serviettenbilder, die seit 1988 entstehen: Manchmal nur mit Tusche, mal mit Farbe oder gar mit Moltofill belegt werden Servietten als Grundlage von kleinen Werken benutzt.
Eigentlich verdanken sich diese Arbeiten der Geselligkeit, dem gemeinsamen Essen im Lokal unterwegs, denn die Grundlage sind ja Papierservietten. Der Künstler berichtet, dass er schon immer auf jeden Fetzen Papier gezeichnet habe, wozu neben den Visitenkarten, Bierdeckeln, Reklamezetteln usw. eben auch Papierservietten gehörten. Durch Moltofill oder Collagebestandteile werden sie immer mehr ihrem ursprünglichen Zweck und ihrer genuinen Beschaffenheit enthoben.